Foto: Francoise Bollack
Angesiedelt zwischen Kunst und Architektur, zwischen Form und Funktion, ist das Rucksack House eine begehbare Skulptur mit eigener Raumqualität, ein schwebender Lichtraum, der wie eine Kreuzung aus temporärem Baugerüst und »minimal sculpture« wirkt. Mobil wie ein Rucksack, wird dieses Mini-Haus als Raumerweiterung mit Stahlseilen vor die Fassade eines beliebigen Wohnhauses gehängt und beim Umzug von seinem Bewohner mitgenommen – ob ein paar Häuser weiter oder in ein anderes Land.
Foto: Courtenay Smith
Als individuell erfahrbarer Freiraum nur privat zugänglich – obwohl für jeden sichtbar im öffentlichen Raum – spendet es mittels ausklappbarer Einrichtungsgegenstände und eingebauter Öffnungen zusätzlichen Wohnraum mit direktem Tageslicht. Einzelne Wandsektionen verwandeln sich mit Hilfe von versteckten Magneten funktional in Schreibtisch, Regale oder eine Plattform zum Lesen und Schlafen. Die aufgehängte Rucksack-Box ist mit dicken, verstärkten Stahlseilen an das »Gast-Haus« oder den »Wirtskörper« angebunden, von dem sie auch den Strom anzapft.
Der Prototyp seiner 1,6 Tonnen schweren, realen Wohn-Skulptur hingegen ist in Skelettbauweise aus verschweißten Eisenvierkantrohren und Sperrholz-Standard-Platten gefertigt. Die Außenhaut besteht aus witterungsbeständigen Furnierschichtplatten, die von Plexiglas-Einlagen unterbrochen wird.
Mit der Vorstellung, durch eine höchst einfache und einleuchtend nachvollziehbare Methode im wörtlichen Sinne neuen Raum an einen schon bestehenden Raum anzudocken, wird die Idee vom selbst gebastelten und anarchistisch gesetzten Baumhaus wiedererweckt, diesmal jedoch prominenter platziert und statisch geprüft.
Die Idee des Rucksack House als voll funktionierender Lebensraum ist Resultat einer grundlegenden künstlerischen Frage: Wie kann Skulptur außerhalb des Kunstkontexts funktionieren? Was ist ihr heutiger Anspruch, wo kommt sie zur Anwendung?
Sam Lubell: Eine Struktur von einem anderen Gebäude abzuhängen ist sicherlich eine einzigartige Idee. Wie bist Du darauf gekommen?
Stefan Eberstadt: Warum sollte ein Gebäude genau da enden, wo seine Wände sind? Wie könnte sich das Gebäude erweitern? Die klaustrophobischen Lebensbedingungen, die ich in Cities wie New York oder London erfahren habe, als ich dort in winzigen Appartements wohnte, die meist nur ein einziges Fenster hatten, provozierten diese Idee bei mir. Anstatt nur aus diesem Fenster hinauszuschauen, stellte ich mir vor, dass dieser Raum jenseits des Fensters zu einem realen, begehbaren Raum werden könnte. Steck’ einfach etwas Raum dran! Es war ein sehr direkter und bildhauerischer Ansatz und ich wollte auch den Prozess, wie es befestigt ist, sichtbar lassen. Neuer Raum wir durch eine simple, klare und verständliche Weise an ein bereits existierendes Gebäude angedockt. Das hat für mich auch diese Idee vom selbst gebastelten und anarchistisch gesetzten Baumhaus wiedererweckt, diesmal jedoch prominenter platziert und statisch geprüft. Unsere allgemeine Wahrnehmung muss stärker gefordert werden, da wir schon irritiert sind, wenn plötzlich die glatte Gebäudefassade durch einen Würfel unterbrochen wird, der in den Straßenraum hineinreicht.
Welchen Zweck erfüllt die Struktur? Ein Bedürfnis nach Ruhe? Eine neue Perspektive?
Beides. Ich habe diesen 9qm großen Raum entworfen, komplett leer und mit klaren Wänden, die nur durch den Rhythmus der Fensteröffnungen unterbrochen werden. Ein heller und leerer Raum zur Kontemplation und ohne Vorgaben, nur offen für die individuelle Nutzung. Wenn nötig, können bestimmte Möbelelemente aus den Wänden ausgefaltet werden, die zu einer niedrigen Liege-Plattform, einem Tisch und einem Stuhl werden. Oder, wie ich es persönlich vorziehe, nur auf dem Boden zu sitzen, um den offenen und klaren Raum zu genießen und mit der Umgebung außen zu verschmelzen, die durch die verschiedenen Fenster herein tritt. Man befindet sich in einer privaten Atmosphäre und gleichzeitig schwebt man im öffentlichen Raum.
Wie befestigt man es?
Zuerst hebt ein Autokran das Rucksack House hoch, während sich ein Team in einer Hebebühne befindet und das Objekt in Position dirigiert, so dass die vier Dorne in die, dafür vorgesehenen Löcher in der Fassade einstecken. Wie ein Rucksack hängt die Box an Stahlseilen, die, umgelenkt zuerst über das Flachdach laufen, dann wieder umgelenkt werden, um an der rückwärtigen Fassade verankert zu werden. Nachdem die Stahlseile gespannt und fixiert sind, kann der Kran aushängen und fahren. Der gesamte Hängeprozess dauerte nur etwa 4–5 Stunden. Tags zuvor werden die Vorarbeiten erledigt, einmal das Setzen und Zementieren der Auflager und Verankerungen, sowie das Befestigen der Umlenkungen am Dach.
Wie kann man Deine Design-Überlegungen beschreiben?
»Space Matters«, Raum zählt! Ich bin daran interessiert neue Raum- Modelle zu entwickeln, gerade vor dem Hintergrund, dass wir in bestimmten urbanen Zentren immer mehr verfügbaren Raum verlieren. Als Künstler experimentiere und re- definiere ich Raum als Kategorie, besonders bezogen auf Zwischenräume und ungenutzte Nischen, um seine physischen Eigenschaften, sozialen Funktionen und intellektuellen Grenzen weiterzutreiben. Die Aufgabe von Kunst heute sehe ich darin, auf die Gestaltung und Formung unserer Umwelt Einfluss zu nehmen. Damit steht Kunst nicht als isolierter Faktor, sondern sie sollte immer wieder mögliche Wechselwirkungen auszuloten, die sich z.B. zwischen Skulptur, Architektur und Design ergeben können. Denn um zu bestehen, muss sich die Kunst mit Themen auseinandersetzen, welche außerhalb ihres Bereiches operieren. Entscheidend für mich bei der Entwicklung des Projektes im Jahr 2002 war und ist bis heute aber die Tatsache, dass Rucksack House zunächst von der Fragestellung der Skulptur her entsteht: Worauf kann sich der Anspruch von Skulptur heute richten? Rucksack House zeigt, wie Skulptur bestimmte soziale Notwendigkeiten und aktuelle architektonische Fragen mit einbeziehen kann.
Man kennt natürlich viele kubische Strukturen, aber was macht die Würfelform zu so einer gutgeeigneten Mini-Haus-Struktur?
Vielleicht ist es eine sehr persönliche Entscheidung, die Würfelform zu benutzen, denn ich habe eine Vorliebe für geometrische Strukturen. Psychologisch gesehen, vertraut man der Würfelform, weil sie eine logische, ehrliche, nachvollziehbare und solide Form darstellt, besonders wenn sie frei hängen soll. Für mich ist es auch eine einfacher zu kalkulierende und zu bauende Struktur, die auch den nutzbaren Grundriss bietet.
Glaubst Du, es gibt Leute, die eine dieser Strukturen besitzen, bewohnen wollen? Könnte dies ein Wohnmodell sein?
Ja, in einer bestimmten Weise reflektiert es ja auch die Persönlichkeit des Besitzers. Wenn man bereit zu einer Veränderung ist, ist Rucksack House das richtige Statement, dies auszudrücken. Weiterhin ist es ein hervorragendes Beispiel für Kunst im öffentlichen Raum und ein toller Extra-Raum zum Sofortgebrauch. Idealerweise könnte es ein funktionierendes Wohnmodell sein, aber zuerst wollte ich eine Vision auf den Weg bringen, darüber nachzudenken wie wir wohnen und wo Wohnen stattfinden kann.
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